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Voyage. Jahrbuch für Reise- & Tourismusforschung 7 / 2005

 

Gebuchte Gefühle

Tourismus zwischen Verortung und Entgrenzung

Booked Emotions: Tourism Between Localization and De-Localization

hrsg. v. H. Spode / I. Ziehe / C. Cantauw

München / Wien 2005

Kurztext:

Der Sonderband des Jahrbuchs Voyage fragt nach den Emotionen, Bildern und Räumen, die der Tourismus herstellt. Aus der Sicht der Volkskunde sowie der Geschichte, der Soziologe und des Marketing wird dabei das Spannungsfeld zwischen ”Verortung und Entgrenzung” in den Blick genommen, das touristische Räume kennzeichnet. ”Zu Hause und trotzdem weit weg” - wie löst der Tourismus diesen widersprüchlichen Anspruch? Sind Gefühle beliebig machbar? Ist das (post-)moderne Reisen eine Reise ins Nichts ortlos-künstlicher Erlebniswelten?

 


Zusammenfassungen der Beiträge

 

Silvia Augustin und Kirsten Harms

Lust oder Verlust? Urlaub als Aufgabe.
Die Gast-Gastgeber-Beziehung im Spannungsfeld von emotionalem Erleben und Emotionsarbeit

Time for Emotions? Vacation as a Challenge.
Guests and Hosts at the Robinson Club Between Emotional Experience and Emotional Wor
k

"Zeit für Gefühle" verspricht der Robinson Club seinen Kunden. Es stellt sich die Frage, welche Motive und Bedürfnisse deren Reiseentscheidung zugrunde liegen. Dabei greift eine isolierte Betrachtung und quantitative Erfassung einzelner Motive zu kurz; um Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge und unbewusste Motive zu erfassen, sind vielmehr qualitative Befragungen erforderlich.
Vor diesem Hintergrund wurde eine Gäste- und Expertenbefragung im Robinson Club Fleesensee durchgeführt. Für eine exemplarische sozialpsychologische  Untersuchung ist dieser Club besonders geeignet, da er als moderne Erlebniswelt konzipiert ist, deren Kennzeichen ein vielfältiges und trendorientiertes Programmangebot ist.
Die Untersuchung geht von der These aus, dass Alltag und Urlaub nicht als Gegenwelten zu betrachten sind, vielmehr sind Identitäts- und Lebensführungskonzepte durch die Triade von Arbeit, Freizeit und Reisen beeinflusst.
In diesem Zusammenhang wurde zunächst die Wechselwirkung zwischen dem Alltag und dem Urlaub als eine spezifische Form der Freizeitgestaltung untersucht. Besonderes Augenmerk lag bei den Befragungen auf den komplexen emotionalen Bedürfnissen, die sowohl die Reiseentscheidung als auch das Reiseverhalten vor Ort bestimmen: ist emotionales Erleben buchbar?
Um diese Frage zu beantworten, ist insbesondere auch die "Hinterbühne" der Club-Animateure einzubeziehen, denn dem Bedürfnis der Gäste nach emotionaler Zuwendung kann nur durch eine hohe Präsenz der Animateure entsprochen werden kann. Wie verlaufen Kommunikation und Interaktion zwischen Gästen und Animateuren? Welchen Belastungen sind dabei letztere ausgesetzt?

 


Nikola Langreiter

Vorzügliche Wirtin.
Zur Position von Gastwirtinnen im Spannungsfeld von Verortung und Entgrenzung

Excellent Landlady:
the Role of Tyrol Proprietesses in the Field of Tension Between Localization and Transgression

Den im Tourismus arbeitenden Frauen werden ganz besondere Funktionen und Fähigkeiten zugeschrieben sowie Verantwortlichkeiten übertragen. In biographisch orientierten Tiefeninterviews mit Tiroler GastwirtInnen zeigte sich, dass sie die Zuschreibungen und Verantwortlichkeiten weitgehend annehmen und versuchen, sie ebenso weitgehend zu erfüllen – nicht zuletzt, um den ökonomischen Erfolg des Unternehmens sicherzustellen.
Dazu gehört es, bestimmte Positionen in "Erlebnistopographien" einzunehmen bzw. diese für Gäste zu gestalten und für emotionale Erlebniswerte zu sorgen. In einem zweiten Teil des Beitrags werden dazu historisch-vergleichend Fundstücke zu zwei verhältnismäßig berühmten Tiroler Wirtinnen aus dem 19. Jahrhundert – Olga Waissnix und Emerenzia Hellenstainer – im Spannungsfeld von Verortung und Entgrenzung analysiert.
Während in der qualitativ-kulturwissenschaftlichen Tourismusforschung zumeist die Bedürfnisse und Perspektiven der TouristInnen interessieren, stehen hier die im Tourismus Arbeitenden im Mittelpunkt der Untersuchung.

 


Elke Kleinau

Konstruktionen von Kultur und Geschlecht.
Reiseberichte aus dem Orient zu Beginn der Moderne

Constructing Culture and Gender: 18th Century Travelogues from the Orient

Der Anschlag vom 11. September 2001 hat – von seinen politischen und ökonomischen Folgen zunächst einmal abgesehen – in Deutschland vor allem eines zur Folge gehabt: Literatur über den Islam, über islamische Kulturen finden seitdem reißenden Absatz. Nicht zum ersten Mal steht damit der islamische Orient im Mittelpunkt des Interesses des deutschen Lesepublikums.
Während heute aber eher das Bedrohliche artikuliert wird, das für die "zivilisierte Welt" vom Islam ausgeht, war der Orient zu Beginn des 20. Jahrhunderts geradezu eine Chiffre für sexuelle Träume von Männern. Wie ist dieses Orientbild entstanden? Löste der islamische Orient bereits bei den ersten europäischen Reisenden diese phantastische Mischung aus Exotik und Erotik aus, oder war – wie heute – eher das bedrohliche Potential des Islams Gegenstand der Erörterungen?
In Reisebeschreibungen des 18. Jahrhunderts wird die Verschränkung von Kultur- und Geschlechtervergleich besonders deutlich. Hier standen nämlich die je spezifischen Geschlechterbeziehungen im Mittelpunkt des Kulturvergleichs, was am Beispiel zweier prominenter Schriften aus dem 18. Jahrhundert verdeutlicht wird:
den 1721 publizierten "Persischen Briefen" des französischen Aufklärers Charles de Montesquieu sowie den 1763 posthum veröffentlichten "Briefen aus dem Orient" der englischen Aristokratin Lady Mary Wortley Montagu.

 


Heike Wolter

"... wie an einem paradiesischen Ort".
Zum DDR-Tourismus der siebziger und achtziger Jahre

"... Like in a Heavenly Place":
Preliminary Reflections on Tourism in the German Democratic Republic during the 70s and 80s

Die DDR war tourismushistorisch keine Insel, sondern hatte Anteil an allgemeinen Entwicklungen, wie sie auch die Bundesrepublik Deutschland durchlief. Allerdings war der DDR-Tourismus einerseits hoch subventioniert, andererseits bestanden starke Restriktionen bei der Vergabe von inländischen Ferienplatzen und bei Auslandsreisen.
Die traditionellen Sehnsuchtsziele der Deutschen waren den DDR-Touristen faktisch verschlossen. Daher entwickelten sich Ersatztopoi; so fungierte die Ostseeküste als quasi-südliches Ferienparadies. Bis sich die Urlaubsreise als allgemeiner Standard in den 1970er Jahren etabliert hatte, wurde die staatliche touristische Grundsicherung als positive Entwicklung in der DDR empfunden. Fortan aber ging es weniger um das ´Ob´ des Reisens, sondern um das ´Wie´ und ´Wo´.
Der (scheinbare) Freiheitsgewinn durch den Urlaub erweist sich in der Diktatur als problematisch. Wird nämlich eine weitgehende Kontrolle dieses gesellschaftlichen Raumes angestrebt, so stellt sich Unzufriedenheit ein, die zum Verlust der systemstabilisierenden Ventilfunktion des Reisens führt. Wird jedoch wenig Kontrolle ausgeübt, könnten die beim Reisen wahrgenommenen Möglichkeiten zur Übertragung der Freiheitsforderungen auf andere Bereiche führen.
Zu fragen ist, warum die Reisemöglichkeiten trotz ihrer starken Einschränkungen für die Mehrheit der DDR-Bürger über lange Zeit systemstabilisierend wirkten, bevor die (Urlaubs-)Reisefreiheit 1989 zu einer der ersten Forderungen an das System wurde.
Abschließend werden Erklärungsmodelle skizziert, die für eine solche Tourismusgeschichte der DDR nutzbar zu machen wären: die Modernisierungstheorie, die Totalitarismustheorie und die Theorie der Zeit-Reise.

 


Cord Pagenstecher

Zwischen Tourismuswerbung und Autobiographie. Erzählstrukturen in Urlaubsalben

Between Tourist Promotion and Autobiography: Narrative Structures in Post War German Photo Albums

Die Tourismusforschung nimmt vielfach an, dass die individuelle Wahrnehmung der Reiseziele weitgehend der Normierung durch die Tourismusindustrie unterliegt, dies vor allem seit der massentouristischen Expansion der Nachkriegszeit. Waren Reiseverhalten und Wahrnehmung der TouristInnen aber tatsächlich so standardisiert, oder spielten auch biographische und Milieueinflüsse eine wichtige Rolle?
Über die Rezeption der Tourismuswerbung gibt es nur wenig quantitative Daten; für eine qualitative Untersuchung der Konstruktionsmechanismen des touristischen Blicks steht jedoch eine massenhaft verbreitete, konkret-visuelle Quelle zur Verfügung: Urlaubsfotos in privaten Knipseralben.
Die Quellenbasis für diesen Beitrag liefert eine Albenserie im Historischen Archiv zum Tourismus (HAT) an der Freien Universität Berlin: in 45 Fotoalben haben ein Bäckermeister und seine Frau aus Berlin alle ihre Reisen zwischen 1942 und 1982 festgehalten und beschrieben.
Die Interpretation solcher Urlaubsbilder ist nicht einfach; sie muss den Produktions- und Aufbewahrungskontext berücksichtigen und nach den spezifischen Funktionen von privater und touristischer Fotografie fragen. Die Analyse kann dann vielfältige Einsichten in die komplexen Mechanismen der touristischen Wahrnehmung eröffnen.
Hierbei zeigt sich: Erfahrung und Erzählung der Reisenden waren beeinflusst von der normierenden Tourismuswerbung einerseits, und von individuellen Aneignungs-, Verarbeitungs- und Erinnerungsprozessen andererseits.

 


Ueli Gyr

"Alles nur Touristenkitsch". Tourismuslogik und Kitsch-Theorien

"Nothing but Tourist Kitsch": Tourism Logic and Kitsch Theories

Der Beitrag thematisiert den bislang in der Forschung stark vernachlässigten "Touristenkitsch". Er fragt nach dessen Erscheinungsqualitäten und Funktionen – einerseits aus der Perspektive von (Massen-)Touristen, die ihn konsumieren und "gestalten", anderseits aus der Perspektive theoretischer Deutungen. Dabei werden Tourismus und Kitsch als interdependente Systeme betrachtet, zwischen denen verschiedene Arten von Zusammenhängen und Beziehungen bestehen.
Ausgangspunkt der Betrachtung ist die Annahme, dass sich Tourismus und Kitsch gegenseitig stützen, aber nicht in beliebiger Weise, wie häufig angenommen wird. Die augenfällige "Anfälligkeit" für Kitsch und Kitschiges im Tourismus, im Urlaub und auf Reisen ist nicht zuletzt auf einer allgemeineren Ebene zu erfassen. Um dies zu leisten, sollen klassische und neuere theoretische Erklärungsversuche aus der Kitschdiskussion herangezogen, überprüft und aufgrund ihrer Plausibilität hierarchisiert werden.

 


Stephan Enser

Europa als Mnemotop.
Kulturtourismus als Programm der europäischen Identitätsbildung

Europe as a Mnemotope: Heritage Tourism as a Means of Building a European Identity

Der Kulturtourismus wird in der fremdenverkehrswissenschaftlichen Literatur viel beachtet, ist jedoch aus soziologischer Sicht bislang noch wenig erforscht. Der Begriff umfasst sowohl den Besichtigungstourismus zu Schlössern, Kirchen, Burgen und anderen historischen Stätten, als auch gastronomische Reisen, Fahrten zu kulturellen Veranstaltungen, Besichtigungen von technischen Anlagen etc.
Der Beitrag konzentriert sich auf jene Formen des Kulturtourismus, in denen Destinationen besucht werden, die als historische Orte bezeichnet werden können. Warum pilgern immer mehr Touristen zu den Stätten, an denen sie die Vergangenheit ihrer Kultur emotional erfahren können? Welche Rolle spielt dabei die Identitätsfindung, und hierbei zumal die einer europäischen Identität, die abseits solcher Schauplätze wenig Platz in den Köpfen hat?
Gestützt auf Jan Assmanns Theorie des "kulturellen Gedächtnisses", wonach Mnemotope – d.h. Erinnerungsorte und -landschaften – mit identitätsstiftenden Zeichen zwecks Herstellung eines kollektiven Gedächtnisses versehen werden, und auf die Überlegungen von Maurice Halbwachs zur Rolle von Erinnerungsorten für die Identitätsbildung, wird untersucht, inwieweit Kulturtouristen heute bestimmte historische Orte als Mnemotope wahrnehmen.
Und zwar insonderheit solche Orte, die von europäischen Institutionen zu diesem Zweck finanziell gefördert werden. Dazu werden die "Europäischen Kulturstraßen" und die "Europäischen Kulturhauptstädte" als Beispiele herangezogen und ihre Funktion in den Kontext der jüngeren Debatte um eine europäische Identität gestellt.

 


Karlheinz Wöhler

Entfernung, Entfernen und Verorten

Distance, Removal and Localization:
the Disappearance of the Tourist Space in Contemporary Societies. The Case of the Lüneburg Heath

Mit der Touristifizierung der Welt verschwindet der Raum für sich. Es bleibt nur noch die Zeit übrig, dies merkte bereits Heine an, als er die Eisenbahn als ´Raumtöter´ charakterisierte. Die Zeit belegt den Raum und schafft so einen abstrakten Raum für Touristen.
Der Beitrag untersucht am Beispiel des Tourismusmarketing für die Lüneburger Heide, wie im letzten Vierteljahrhundert ein- und demselben Raum für die Touristen unterschiedliche Realitäten zugeschrieben worden sind.
Daraus folgt, dass der Tourismusraum ein indifferenter Raum geworden ist. Der ferne Raum ist nur noch dann ein Reiseraum, wenn er "in die Zeit" passt, und dies bedeutet, dass er irgendwo sein kann. Tourismusräume sind daher keine in sich ruhenden Räume. Sie sind ein Netzwerk von dynamisierenden Orten, d.h. der Raum konkretisiert sich für den Touristen in verschiedenen Orten und ist daher nicht (mehr) mit dem unmittelbaren Raum verbunden, sondern er verweist auf die jeweilige Zeitgeistlogik der westlichen Welt.
Wenn es zutrifft, dass der unmittelbare Raum mit seinen sozialen und materiellen Objekten "verschwindet", dann hat die ethnologische Tourismusforschung ein Problem und zugleich einen Gewinn: denn wenn der Tourismus das Fremde bzw. den fremden Raum entfernt, dann kann er nicht (mehr) für die Analyse und das Verstehen der Touristen bzw. des Tourismus herhalten. Man kann anderswo nachfragen, um das Touristenverhalten zu verstehen – etwa im Ausgangsraum des Touristen, wo das generiert wird, was den Tourismusraum zur Zeit bestimmt.

 


Hasso Spode

Der Blick des Post-Touristen. Torheiten und Trugschlüsse in der Tourismusforschung

The Post-Tourist´s Gaze: Follies and Fallacies in Tourism Reseach

In der sozial- und kulturwissenschaftlichen Tourismusforschung werden seit geraumer Zeit zwei Begriffe ventiliert: das Konzept des "touristischen Blicks" und die Charakterisierung des gegenwärtigen Tourismus als "postmodern". Wer diese Fahnenworte gebraucht, dokumentiert, auf der Höhe der Zeit zu sein und darf mitreden.
Nach der Theorie des touristischen Blicks sei dieser vergleichbar mit dem "klinischen Blick" des Arztes, der sich um 1800 durchgesetzt hatte. Allerdings habe dieser touristische Blick - im Gegensatz zum klinischen- unlängst einen tiefgreifenden Wandel erfahren: an die Stelle des "romantischen", ernsten, der Echtheit verpflichteten Blicks sei der "kollektive", ironische, gesellig-spielerische getreten. Zugleich werde der serielle "fordistische" Massentourismus durch einen individuellen "postfordistischen" abgelöst.
Damit reiht sich die Tourismusforschung ein in die soziologisch-zeitdiagnostischen Analysen eines postmodernen Heute. Der "Post-Tourist" sei nicht länger auf der Suche nach Authentizität, sondern nehme das Konstruierte und Dekontextualisierte touristifizierter Räume freudig an, verschaffen ihm doch diese ortlosen Simulationen berechenbare "Erlebniswerte".
Zu fragen ist, welcher theoretische und historisch-empirische Gehalt dem Ansatz postmoderner Tourismusanalysen zukommt: Beschreibt der touristische Blick eine tiefgreifende mentale Struktur, die sich unlängst ebenso tiefgreifend gewandelt hat? Erleben wir einen Siegeszug des individuellen Reisens? Wird im heutigen Tourismus das Authentische vom Simulierten abgelöst? Die Antwort, die hier gegeben wird, ist eindeutig. Sie lautet in allen drei Fällen: nein.

 


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Bibliographische Daten

Hasso Spode und Irene Ziehe (Hrsg.)
(unter Mitarbeit von Christiane Cantauw)
Gebuchte Gefühle.
Tourismus zwischen Verortung und Entgrenzung

München/Wien: Profil-Verlag
2005, br., 184 pp., Euro (D) ca. 22,00
(Auslieferung 1/2006)
ISBN 3-89019-556-3
Voyage. Jahrbuch für Reise- & Tourismusforschung, Bd. 7;
zugleich: Kleine Schriften der Freunde des Museums Europäischer Kulturen, Bd. 4
Bestelladresse: Profil-Verlag, Postfach 21 01 43, D- 80671 München

Für sämtliche Angaben keine Gewähr

(c) 2006 by Autoren, Voyage und Profil-Verlag

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