Editorial

Kleinere Abweichungen zur  Buchausgabe.
(c) 1997/2004 Hasso Spode und DuMont
Bei Zitat oder Weiterverwendung bitte die Nennung
von Autor und Quelle (Voyage Bd. 1) nicht vergessen !

 

 

 Auszug aus Voyage. Jahrbuch für Reise- & Tourismusforschung, Bd. 1 (S. 7-12),

zum Programm einer fröhlichen Tourismusforschung (Editorial):

 

Hasso Spode
 

Zur Einführung - wohin die Reise geht


 
 
 
 

"Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes,
Welcher so weit geirrt nach der heiligen Troja Zerstörung,
Vieler Menschen Städte gesehen und Sitte gelernt hat
Und auf dem Meere so viel unnennbare Leiden erduldet,
Seine Seele zu retten und seiner Freunde Zurückkunft.
Doch die Freunde rettet er nicht ..."  - Homer, OD 1ff


 
 

Voyage, die Reise ...
 

Blicken wir vorab kurz auf die Wortgeschichte. Während das französische "Voyage" für deutsche Ohren wohltönend klingt, aber nur auf den technisch-nüchternen Begriff des "Weges" zurückgeht, ist die Etymologie der "Reise" aussagekräftiger und zugleich poetischer, verweist sie doch auf einen grundlegenden anthropologischen Tatbestand: Die "Reise" ist das "Sich-erheben" zur Fahrt - zumal zur kriegerischen. Die Reise ist der Große Aufbruch.

Aufbruch aber hat einen Doppelsinn: gefestigte Strukturen brechen auf, und das Vertraute weicht dem Neuen, das Gewisse dem Ungewissen. Eine Revolution. Die Un- und Neuordnung kann schön sein und sie kann schrecklich sein, eine Befreiung oder eine Prüfung. Wir haben es besser als Odysseus und seine Gefährten. Immer weniger Menschen auf den Inseln der Selingen - in den reichen, zur Zeit friedlichen Ländern Europas, Nordamerikas oder Asiens - haben noch am eigenen Leib die Schrecken der Reise erleiden müssen; ihr höchster Schrecken: das überbuchte Hotel, die gestohlene Scheckkarte, der Stau auf der A 13. Doch die Reise war - und ist - schrecklich. Krieg, Armut und Verfolgung heißen die Gründe des Aufbruchs ins Ungewisse. Peregrinus war den Römern der, der nicht dazugehört: der Reisende, der den sicheren heimischen Acker verlassen musste - in der Regel kein beneidenswertes Schicksal. An den Schrecken der Reise nehmen wir beiläufig als Betrachter durchs kleine TV-Fenster teil; die Flüchtenden werden weggesperrt, die Tore der Festung schließen sich.

Wir aber dürfen passieren. Schließlich wollen wir uns ja nicht selbst einmauern. Wir reisen ganz freiwillig. Und zwar massenhaft. Keine Gefahr droht; wir sind ganz sicher: Wohlbehalten, aufgefüllt mit Leben, werden wir zurückkehren in die vertrauten Strukturen des Alltags. Die Schrecken der Reise sind - und waren - eben nur die eine Seite des Aufbruchs, der zugleich Freiheiten, Glück verspricht, Chancen öffnet, die Probe stellt. Immer waren die mythischen Helden Reisende. Beginnend mit Enkidu, dem ersten Menschen des babylonischen Gilgamesch-Epos, über Odysseus, Herakles, Sindbad, Parzival bis zu Old Shatterhand und Captain Kirk. Was wäre das wohl für ein Held, der hinterm Ofen hockt? Gut, vielleicht ein Held des Alltags; aber der Stoff aus dem die Träume sind - das ist die Reise!
Dabei mögen Leid und Gefahr die notwendige Prüfung sein, die das Schöne erst ermöglicht. Was den Wert des Reisens ausmache, schrieb Albert Camus, sei die Angst. Die Erschütterung sensibilisiert, öffnet die Sinne. Und Odysseus litt keineswegs ohn' Unterlas; er befand sich höchst wohl als umsorgter Gast der Kirke und bei den Phäaken, lauschte verzückt dem Gesang der Sirenen, und er genoss den Morgen am Strand, wenn "die Frühe mit Rosenfingern erwacht ."

Zurück ins Heute. Die organisierte Maschinerie des Tourismus dämpft, domestiziert nach Kräften die Erschütterung der Reise (schon um Regressansprüche zu vermeiden) und vermag dennoch aus dem kläglichen Rest an Ungewissheit und Fremdheit Kapital zu schlagen. Ein wahres Wunderwerk. Seine Funktionsweise ist noch weitgehend unbekannt. Soviel scheint klar: Touristen sind keine Helden (je älter sie sind, desto weniger). Doch sie dürfen so tun als ob, dürfen ihre kleinen Prüfungen erleben - und zuhause davon erzählen. Der verschundene Busfahrer, die schwankende Fähre, das Schnäppchen im Basar.

Goethe, statt die Majestät der alpinen Berge zu würdigen, berichtet begeistert, wie der Handschuh seiner Begleiterin, der auf der Kutschfahrt verlorengegangen war, auf dem Rückweg wiedergefunden wird - eine kleine, glückliche aventure. Der Tourismus hat das Erlebnis organisiert. Die zünftige Brotzeit im Festzelt, der Blumenkranz bei der Landung in Honolulu. Und doch verbleibt genügend Raum für individuelles Erleben. Darin unterscheiden wir uns nicht von Goethe.
 
 

Tourismusforschung - ein kurzer Rückblick
 
Dass auch der Tourismus schrecklich sei, ist der Tenor der gelehrten Rede über die Vergnügungsreise seit über zwei Jahrhunderten. Immer gab - und gibt - es zuviel Touristen; ein ewiges Spiel sozialer Distinktion: wir sind Reisende, ihr seid Touristen. Es wäre müßig, dieses Spiel abschaffen zu wollen; viel zu tief ist es verankert im Bauplan unser sozialen Welt. Die überkommene abwehrend-kulturkritische Attitüde ist ein Motor der beständigen räumlichen Expansion touristischer Ziele.

Die Branche sollte also den Kulturkritikern, die sie schmähen und verspotten, eigentlich dankbar sein. Stattdessen misstraut sie Intelligenz und Wissenschaft, setzt auf brave Reisejournalisten, die brave Reisebeilagen schreiben, und bedient sich akademischer Experten bestenfalls, wenn es gilt, Umsatz zu machen - und zwar presto. Der Wissenschaftsferne der Tourismusbranche entspricht umgekehrt die Geringschätzung der Beforschung des Reisens, genauer: des Massenreisens, durch die Wissenschaften. Sei es, dass Tourismus den Hautgout des Vulgären, Unseriösen hat, sei es, dass er sich - trotz ökologischer Kritik - wenig eignet, als drängendes gesellschaftliches "Problem" definiert zu werden.

Generell gilt: Forschung lässt sich mit Unglück allemal besser legitimieren als mit Glück; und so thematisiert die Freizeitforschung die "falsche" Verwendung von Zeit, die Alkoholforschung den Alkoholismus, die Nahrungsforschung das Übergewicht - gesunde, reiche und glückliche Menschen sind für die Akquisition von Drittmitteln nun einmal unergiebiger als kranke, arme und unglückliche. Dies ist keineswegs so sinnvoll, wie es auf den ersten Blick scheinen mag: Prinzipiell lässt sich aus Gelungenem ebenso, vielleicht sogar besser lernen, als aus Misslungenem; doch die "Glücksforschung" steckt erst in den Anfängen. Und so gilt Tourismus bis dato als ein Feld, das wenig akademische Reputation verheißt.

Entsprechend randständig ist die sogenannte Tourismuswissenschaft, die eigentlich zuständige Disziplin. An den Universitäten fungiert sie - sofern sie überhaupt vertreten ist - meist als ein Teilgebiet der Betriebswirtschaft oder der Geographie; vor allem aber ist sie ein Handwerk, das an Fach(hoch)schulen vermittelt wird. Dennoch: diese Randständigkeit bleibt sonderbar, bedenkt man, dass der Tourismus heute weltweit mehr Gelder bewegt, als die Ölindustrie, und - vor allem - dass es wohl nur wenige Dinge gibt, die im Trachten und Sinnen der Menschen Europas und Nordamerikas einen so hohen Stellenwert einnehmen, wie das Reisen um des Reisens Willen.

Die Randständigkeit der Tourismuswissenschaft ist freilich auch selbstverschuldet. Als eigenständige Disziplin hatte sie in den späten zwanziger Jahren Konturen angenommen: Der Betriebswirtschaftler Robert Glücksmann gründete in Berlin ein Lehr- und Forschungsinstitut und gab das inzwischen legendäre Archiv für Fremdenverkehr heraus, ein interdisziplinäres und internationales Diskussionsforum, das der "Fremdenverkehrslehre" (so hieß das zunächst) den entscheidenden Anschub gab. Dabei dominierten zwar wirtschaftlich-praktische Fragen, doch war es selbstverständlich, den Tourismus als ein Phänomen zu betrachten, das die verschiedensten Sphären von Kultur und Gesellschaft tangiert. Vor allem in der Schweiz - mit Hunziker und Krapf - fiel der kulturwissenschaftliche Zugriff auf fruchtbaren Boden. Die ökonomische Orientierung galt ihnen quasi als notwendiges Übel, als Einstieg in eine breite kulturwissenschaftliche Erforschung des "Fremdenverkehrs".

Nach dem Zweiten Weltkrieg dann allerdings kehrten sich die Prioritäten um: Die "Fremdenverkehrslehre" wurde ein eng begrenztes, den Wirtschaftswissenschaften zugeordnetes Orchideenfach, das der sogenannten "Praxis", das heißt wirtschaftlichen und politischen Interessen, zuarbeitete. Wer den Tourismus in das "Kultursystem als Ganzes" stellen wollte (so einst Hunzikers programmatische Forderung), fiel nun der Ächtung durch die kleine Expertenschar anheim. Sie folgte damit zum einen den Geldtöpfen, zum anderen aber einem generellen Trend zu immer weiterer Spezialisierung und Fragmentierung der Wissensproduktion.

Immerhin gelang es damit der "Fremdenverkehrslehre", sich im Mitteleuropa der Nachkriegszeit dauerhaft zu etablieren; als das Journal of Geography 1953 vorschlug, den Tourismus zum Gegenstand akademischer Lehre zu machen, hatte dies im deutschsprachigen Raum längst Tradition. Und in den sechziger Jahren erblühte hier sogar - abseits der Universitäten - eine sozialwissenschaftlich orientierte Forschung: Unter der Ägide Heinz Hahns regte der Starnberger Studienkreis für Tourismus eine Fülle von Studien an (später finanziert über die wohl beste langfristig durchgeführte Repräsentativerhebung, die Reiseanalyse). Indes wurde versäumt, die Arbeit auf eine internationale Basis zu stellen; außerhalb des deutschsprachigen Raums blieb der Studienkreis nahezu unbekannt. So wie umgekehrt der allmähliche Aufschwung tourismuswissenschaftlicher Forschung in den englischsprachigen und romanischen Ländern - 1973 wurden die Annals of Tourism Research gegründet - in Mitteleuropa zu wenig Beachtung fand.

In der letzten Dekade, schließlich, war die Fachdisziplin an den deutschsprachigen Universitäten durch zwei Tendenzen gekennzeichnet: Zum einen durch eine primär ökologisch begründete Tourismuskritik, die zumal von den Alpenländern ausging; zum anderen durch ein beständiges Lamento über den engen Horizont der eigenen Forschung und Lehre - ohne dass hier grundlegend Abhilfe geschaffen worden wäre. Gleichzeitig legten die Sozial- und Kulturwissenschaften, zumal die Volksunde, aber auch Geschichte oder Soziologie, ihre Reserve gegenüber dem "ordinären" Massentourismus ab, und nahmen sich ihrerseits - und ohne die "zuständige" Fachdisziplin um Erlaubnis zu fragen - des Themas an.

So haben wir es derzeit mit einer chancenreichen Umbruchsituation zu tun. Die institutionalisierte Tourismuswissenschaft, stets auf dem Grat zur bloßen Technologie wandelnd, ist verunsichert und (zumindest in Teilen) offen für neue Konzepte und interdisziplinäre Zusammenarbeit. Die Sozial- und Kulturwissenschaften wiederum haben - im Zeichen des Wandels von der Arbeits- zur Erlebnisgesellschaft - ihre kulturkritische Attitüde mehr und mehr abgestreift und beginnen, Freizeit und Tourismus als Forschungsgegenstand ernst zu nehmen. Und schließlich: Längst hat der Trend zur immer weiteren Ausdifferenzierung der humanwissenschaftlichen Fächer eine "kulturalistische" Gegenbewegung ausgelöst, die wieder eine stärker ganzheitliche Sicht einfordert.
 
 

Fröhliche Wissenschaft
 
Die Zeit ist reif für ein länder- und fächerübergreifendes Forum. Ein Forum, das allen Interessierten - die allzuoft isoliert voneinander arbeiten, nichts voneinander wissen - Übersetzerdienste leistet, das der bestehenden Tourismuswissenschaft ebenso offen steht, wie der Soziologie, der Geschichte, der Volkskunde, der Literaturwissenschaft oder der Philosophie. Ein Forum, das aber auch Raum läßt für nicht-wissenschaftliche Gedankenflüge, für polemische Essays und für Literarisches. Und ein Forum schließlich, das Übersetzungsarbeit im wörtlichen Sinne leistet: Dem durch seine schiere Größe allzu selbstbezogenen deutschen Sprachraum werden fremdsprachige Autoren vorstellt; und - umgekehrt - wird dazu beigetragen, der einst führenden deutschsprachigen Tourismusforschung wieder eine international stärker vernehmbare Stimme zu geben.

Dass ein solches Forum in jeder Hinsicht unabhängig ist und keine Wertung oder Methodik vorgeben kann und will - außer dem Grundkonsens, Tourismus als ein wesentlich soziales und kulturelles Phänomen anzusehen - versteht sich von selbst. Hierfür stehen das Herausgebergremium und der Beirat, in denen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Fächer und Länder versammelt sind, aber auch Publizistik und Journalismus: Zu wenig wissen wir über den Tourismus, und zu schön kann das Reisen sein, als dass dieses Thema der Wissenschaft allein überlassen bleiben sollte. Aus dem nämlichen Grund sollte es aber auch kein exklusives Feld für Praktiker und Technologen bleiben (seien sie nun ökonomisch, ökologisch oder sonstwie interessiert), die die etablierte "Tourismuswissenschaft" dominieren. Bisweilen wird von dieser Seite moniert, es gäbe "zu viele Theoretiker" im Bereich des Tourismus; solche Schelte darf immer auf Beifall hoffen - doch das Gegenteil trifft zu: es gibt viel zu wenig davon. Nichts ist so praktisch, wie eine gute Theorie.

Kurz: VOYAGE will eine neue, eine "fröhliche Wissenschaft" vom Reisen begründen helfen. Eine Wissenschaft, die sich nicht in kurzatmigen Umfragen, geistlosen Modebegriffen und luftigen Zukunftsszenarien gefällt, eine Wissenschaft, die nicht schon alles weiß und alles steuern will, sondern die neugierig ist, Fragen stellt, Gedankenarbeit leistet, um vielleicht einmal ihre Ergebnisse in das "Kultursystem als Ganzes" stellen zu können. Dann erst hätten wir eine Grundlagenforschung im Bereich des Tourismus, die diesen Namen verdient. 
 


Warum reisen?
 

Jeder Band wird ein Schwerpunktthema behandeln. Zum Auftakt wird eine, vielleicht die Leitfrage der Tourismusforschung gestellt: Warum reisen? Eigentlich müsste sie präziser heißen: Warum reisen wir freiwillig, massenhaft und ohne davon berufliche oder finanzielle Vorteile zu erwarten? Im Gegenteil, wir zahlen noch dafür.

Den Altvordern wäre unsere Reisewut wohl ziemlich verrückt vorgekommen. Warum dies heute anders ist, und ob und in wieweit der moderne Tourismus vielleicht doch bloß der heutige Ausdruck weit älterer, gar universeller Strukturen ist, darum soll es in diesem ersten Band von VOYAGE hauptsächlich gehen. Aus ganz unterschiedlicher Warte geben die einzelnen Beiträge hierzu auch ganz unterschiedliche Antworten, oder bescheidener: Denkanstöße.

Unterteilt werden die Beiträge in die Rubriken "Wissen" und "Essay". Wobei erstere Aufsätze aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen versammelt, letztere Polemiken, Gedankensplitter, Beobachtungen, bis hin zu literarischen Betrachtungen; die Grenzen sind freilich fließend (kann doch Wissenschaft auch polemisch oder literarisch sein, und Literarisches fundierter als Wissenschaft). Zusätzlich enthält jeder Band einen Serviceteil: Zahlenübersichten über die neuesten Trends im Tourismus, Buch- und Sammelbesprechungen und die Zusammenfassungen der Beiträge.

Blaise Pascal sagt, alles Unglück komme daher, dass die Menschen nicht ruhig in ihrem Zimmer bleiben können. Dieser Ansicht sind wir nicht.

"Es wird immer Menschen geben, die ausziehen, um von der Welt zu erzählen", schreibt Horst Krüger. "Es wird immer Menschen geben, die sich zu Hause erzählen lassen. Die Welt ist zu groß. Sie ist ein Brunnen. Man kann ihn nicht ausschöpfen. Man kann seine Wasser nur kosten - becherweise. Wie schmeckt denn die Welt? Ich sage: immer anders, überall."
 


 
Introduction to VOYAGE (excerpt from vol 1, pp 7-12): 

In sum: Pascal said: All misfortune arises because people can´t stay at home. Luckily, Pascal was wrong. The key note editorial discusses past and present tourism research (still a remote subject and heavily under the influence of the travel industry) and then pleads for cultural and social studies in tourism, for a broader, livlier reseach, a "gay science" (to use the Nietzschean term) -  interdisciplinary, international and never boring.

Articles in VOYAGE are in German, abstracts in English.
 

 

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